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Woche #1

Hamburgs späte Moderne

In den 1990er Jahren kam die Hamburger Architektur ungewohnt exaltiert daher und bediente sich internationaler Vorbilder von Florida bis Italien. Das Flaggschiff dieser neuen Spielfreude waren Büro- und Geschäftshäuser: allen voran das unübersehbare Gruner-und-Jahr-Gebäude (1990, Architektengemeinschaft Baumwall) am Baumwall, nicht minder das Zürichhaus (1993, gmp). Während hier maritime Versatzstücke vom Wimpel bis zur Reling ausgereizt wurden, blieb das Verlagshaus Hoffmann und Campe (1991/2001, Projektgruppe Architektur und Stadt) im hanseatischen Understatement eher bei klassisch-italienischen Zitaten. Im Untergrund, beim U-Bahnhof Mümmelmannsberg (1990, Timm Ohrt/Hille von Seggern), hingegen fühlte man sich ins pastellfarbene Art-Déco von Miami versetzt. Und an der Elbchaussee, beim Wohn- und Eventhaus E96 (1996, Heinrich Stöter), wurden dann alle erdenklichen Stilformen aufeinandergetürmt – nicht ohne einen ökologischen Mehrwert.


Das naturnahe Bauen war im Hamburger Quartier Neuallermöhe von Anfang an Programm. Als die Großwohnsiedlungen der 1970er Jahre von Osdorfer Born bis Mümmelmannsberg an Glanz eingebüßt hatten, wagte man in den Marschlanden noch einmal einen neuen Ansatz: Mit viel Grün, von Wasserkanälen durchzogen und ganz ohne Hochhäuser sollte eine maßstäbliche ökologische Siedlung errichtet werden. Ab 1982 entstanden so nicht nur respektable Wohnriegel und bemerkemswerte Schulen, sondern auch drei außergewöhnliche Kirchen. Eigentlich hatte man diese Baugattung schon totgesagt, bevor sie in den 1990er Jahren mit ehrgeizigen Einzelprojekten wieder von sich reden machte. Mit der Edith-Stein-Kirche (1993, APB) und mit der Franz-von-Assisi-Kirche (1993, Nils Roderjan) wurden bleibende postmoderne Marken geschaffen, während das ökumenische Gemeindehaus FesteBurg (2001, Christine Edmaier) gerade in den Sog der Sparmaßnahmen gerät.


Gerade an unerwarteter Stelle, in den Gewerbegebieten an den Stadträndern, war Hamburg seinerzeit innovativ unterwegs. Schon mit einem Auto-Park-Kubus (Mittelweg 160, Schild Architekten Ingenieure) fand man zu einer Interimslösung, die in das ikonische Smart-Tower-System münden sollte. Doch ausgerechnet in einem der frühesten hier vorgestellten Bauten kündigte sich das metallisch glänzende Millennium an: Für den 1991 fertiggestellten Oldtimersalon „Car & Driver“, der heute als Elektromarkt genutzt wird, wagten Hadi Teherani und Wolfgang Raderschall eine wegweisende Punkthalterung für Glasscheiben. Diese elegante Form der Hightech-Architektur trieb in Hamburg, parallel zur Schiffsromantik der postmodernen Kontorhäuser, äußerst sehenswerte Blüten – vom England-Terminal (1993, me di um) bis zum Lofthaus am Elbberg  (1997, brt).


Text: Karin Berkemann von moderneREGIONAL

U-Bahnhof Mümmelmannsberg

Nachdem die Neue Heimat 1970 den Grundstein zur Großwohnsiedlung gelegt hatte, sollte die U-Bahn noch zwei Jahrzehnte auf sich warten lassen. Wo der Harvighorster Redder auf die Kandinskyallee trifft, kommt seit 1990 auch die U-Bahnstation Mümmelmannsberg an die Oberfläche. Der Name des neuen Quartiers ist einer Tiergeschichte des Heidedichters Hermann Löns entlehnt. Auch der U-Bahnhof trägt gleich mehrere Hasenreliefs der Bildhauerin Karin Palluch. Für die Architektur konnten damals Timm Ohrt und Hille von Seggern gewonnen werden.

Seit 1981 führt die Bundesautobahn A1 durch das Quartier, die hier bis 1990 per Schildvortrieb durch einen Tunnel unterquert wurde, um die U-Bahnstation Mümmelmannsberg zu ermöglichen. Hier können im Notfall bis zu 2.500 Personen Schutz u. a. vor Verstrahlung finden. Im Alltag gelangen die Fahrgäste über verglaste Zugangsbauten und eine Treppenanlage ins Zwischengeschoss, dessen Wände mit verspiegelten bzw. silbrig emaillierten Metallplatten verkleidet sind. Abermals öffnet sich eine Freitreppe zum Mittelbahnsteig, wo Rosé- und helle Blautöne vorherrschen – mit abstrakten Fliesenmustern, spiegelnden Oberflächen und hier und da einer kleinen Hasenfigur. kb

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Verlag Hoffmann und Campe

Auf einem parkartigen Gelände stehen fünf historische Villen, darunter zwei von Martin Haller (1835-1925), einem der Architekten des Hamburger Rathauses. Sie wurden ab 1987 durch einen Neubau ergänzt. Dieses freistehende Gebäude bildet nun das Zentrum des Ensembles, das sich aus den Adressen Harvestehuder Weg  41, 43, 44 und 45 zusammensetzt. Es zitiert die spätklassizistische Architektur und die Formensprache des gewachsenen Areals, kombiniert dies jedoch mit (post-) modernen Zitaten: so etwa großen Rundfenstern und der Verwendung zeittypischer Farbakzente wie den türkisfarbigen Stahlträgern der Fensterstürze und des Eingangsbereichs. 

Die Altbauten wurden restauriert, sämtliche zur Verlagsgruppe gehörigen Gebäude unterirdisch mit dem Neubau verbunden. Er ist bis heute auch die Firmenadresse. 
1999 bis 2001 wurde eine Villa des Ensembles restauriert und mit einem Erweiterungsbau zu einem Wohn- und Repräsentationsbau ergänzt. Auch dieser ist mit dem Verlag unterirdisch verbunden. db

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Car & Driver

Der Oldtimersalon „Car & Driver“ wurde 1991 eröffnet und bereits 1996 wieder geschlossen. An einer Ausfallstraße im Nordosten von Hamburg, auf dem trapezförmigen Grundstück, mussten 1990 eine vierschiffige Montagehalle und eine Tankstelle in die Planung einbezogen werden. Die Architekten Hadi Teherani und Wolfgang Raderschall setzten auf die Halle flach geneigte Aluminium-Satteldächer. An die Stelle der Tankstelle trat ein gläserner Showroom. Beide Zonen verbindet eine mittige Längsachse: vom Baldachin an der Showroom-Fassade bis zum Fensterkeil in den Hallendächern.

Im Showroom, der sich zur Straße hin öffnet, brechen ein- und ausknickende Linien immer wieder die Symmetrie. So formen die Frontscheiben im Profil nicht nur ein leichtes V nach innen, sondern kippen zusätzlich um 10 Grad nach vorne. Die Architekten beschreiben ihre ambitionierte Konstruktion, bei der sie vom Tragwerksplaner Stefan Polónyi unterstützt wurden, als bundesweit erste Punkthalterung für Glas. Auch stilistisch finden sich bei „Car & Driver“ Elemente, die erst um die Jahrtausendwende Schule machen sollten. Aktuell dient das Ensemble als Zweigstelle des Elektrohändlers „Media Markt“. kb

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Edith-Stein-Kirche

Die Edith-Stein-Kirche kommt ganz ohne Turm aus: Von einem Kreuz bekrönt, steigt die Rotunde zur Straße hin an, wo eine Mauer auch die Glocke aufnimmt. Zwischen dem S-Bahnhof „Nettelnburg“ und dem Rahel-Varnhagen-Weg grenzt das Ensemble an einen kleinen Platz im Quartier Neuallermöhe. Hier entstand die Kirche 1993 nach Entwürfen der Architektengruppe Planen & Bauen.
Der Kirchenraum selbst ruht auf einem kreisrunden Grundriss, von der Straße abgeschirmt durch Neben- und Funktionsbauten, die wiederum einen Innenhof umfangen.

Vor dem Backsteingelb der Wände leuchten die Ausstattungsstücke in den Primärfarben Rot, Gelb und Blau, ergänzt um den Kontrast von Schwarz und Weiß. Für die künstlerische Ausgestaltung konnte W. Gies gewonnen werden. Bemerkenswert ist nicht nur die gerundete Orgel auf der ovalen Empore. Daneben erinnert die Glasgestaltung „Das Kreuz ist ganz Licht“ an die Namenspatronin der Kirche – die katholische Ordensfrau mit jüdischen Wurzeln starb 1942 im KZ Auschwitz. kb

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Franz-von-Assis-Kirche

Es sollte eine Neubausiedlung ohne Hochhäuser werden, als man in den 1970er Jahren an die Planung von Neuallermöhe ging. In den Marschlanden, nahe der deutsch-deutschen Grenze, entstand ab 1982 ein aufgelockertes, von Wassergräben durchzogenes Quartier. Diesem naturnahen Gedanken folgt auch die evangelisch-lutherische Franz-von-Assis-Kirche. Am Grachtenplatz erhebt sich der Bau auf einem rautenförmigen Grundriss, in dessen nördliche Spitze der Turm eingebunden ist. Auf die roten Backsteinwände des Kirchenraums legte der Architekt Nils Roderjan 1993 ein gewölbtes Kupferdach – wie ein umgedrehtes Schiff.

Auch im Inneren klingen maritime Bilder an. Die Emporengeländer erinnern an eine Reling. Selbst Taufbecken und Pult sind in Decke und Boden verspannt, als müssten sie dem Seegang trotzen. Ein Findling im Eingangsbereich und ein Kirchenfenster, das vor der Kriegszerstörung aus St. Nikolai am Hopfenmarkt eingelagert werden konnte, schlagen die Brücke in die Vergangenheit der Hansestadt. kb

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E96

Eigentlich steht in der Elbchaussee 96 ein Ökohaus, es sieht nur nicht danach aus. Statt Lehmputz und Naturtönen verbinden sich auf vier Ebenen metallische Hightech-Oberflächen mit primärfarbigen Putzwänden, vorspringende Elemente mit rückspringenden Baukörpern, Glasfronten mit Rundfenstern. Erst auf den zweiten Blick enthüllen viele der künstlerisch extrovertierten Formen ihren Umwelt-Mehrwert – vom Regenwassersammler bis zur Fotovoltaik-Anlage.
Der Architekt und Künstler Heinrich Stöter entwarf das „E96“ nicht nur als Wohnsitz für seine Familie, sondern auch als Atelier und Galerie.

Fast jedes Detail dieser begehbaren Skulptur gestaltete er selbst. Im Inneren geben gläserne Fußböden immer wieder den Blick nach oben und unten frei. Die mediale Aufmerksamkeit war dem „E96“ schon zur Bauzeit sicher, denn im betont zurückhaltenden Hamburg, zwischen den repräsentativen Häusern der großbürgerlichen Elbchaussee, ist der überbordende Stilmix bis heute ein Statement. kb

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Dieser Beitrag ist eine Kooperation zwischen Karin Berkemann und Daniel Bartetzko von moderneREGIONAL und "Map of Architecture". 

Das baukulturelle Online-Magazin moderneREGIONAL stellt mit dem Portal „Best of 90s“, u. a. gemeinsam mit dem Denkmalschutzamt Hamburg, die Architektur der 1990er Jahre vor und präsentiert mit der virtuellen Karte „invisibils“ aufgegebene, bedrohte und verlorene Kirchenbauten.

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Über uns

Bauwerke prägen unsere Umwelt wie kaum etwas anderes. Doch welche klugen Köpfe stecken hinter den Gebäuden? Mit „Map of Architecture“ bringen wir hier Licht ins Dunkel. In Hamburg sind die Angaben von mehr als 12.000 Häusern verfügbar, in anderen Städten gibt es erste Einträge, z.B. in Kopenhagen.